In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile[46] eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal soviel Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich stehen. “Wie kannst du es wagen,” sprach sie mit zornigem Blick, “in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu stehlen? Das soll dir schlecht bekommen.” – “Ach,” antwortete er, “laßt Gnade für Recht ergehen[47], ich habe mich nur aus Not dazu entschlossen: meine Frau hat Eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und empfindet ein so großes Gelüsten, dass sie sterben würde, wenn sie nicht davon zu essen bekäme.”
Da ließ die Zauberin in ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: “Verhält es sich so[48], wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln mitzunehmen, soviel du willst, allein[49] ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, das deine Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen[50], und ich will für es sorgen wie eine Mutter”. Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen gebar, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und nahm es mit sich fort.
Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag, und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich hin[51] und rief:
Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnen Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte sie oben um einen Fenster, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.
Nach ein paar Jahren trug es sich zu[52], dass der Sohn des Königs durch den Wald ritt und an dem Turm vorüberkam. Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, dass er still hielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer Einsamkeit sich die Zeit vertrieb[53] damit, ihre süße Stimme erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinaufsteigen und suchte nach einer Türe des Turms, aber es war keine zu finden. Er ritt heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er jeden Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte. Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er, dass eine Zauberin herankam, und hörte, wie sie hinaufrief:
Da ließ Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin stieg zu ihr hinauf. “Ist das die Leiter, auf welcher man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Glück versuchen.” Und den folgenden Tag, als es anfing dunkel zu werden, ging er zu dem Turme und rief:
Alsbald fielen die Haare herab, und der Königssohn stieg hinauf.
Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten. Doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit ihr zu reden. Er erzählte ihr, dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr bewegt sei, dass es ihm keine Ruhe ließ und er sie selbst sehen müsse. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie ihn zum Mann nehmen wollte (und sie sah, dass er jung und schön war) so dachte sie: “Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel,” und sagte ja, und legte ihre Hand in seine Hand. Sie sprach: “Ich will gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht, wie ich herabkommen kann. Wenn du kommst, so bringe jedesmal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten, und wenn die fertig ist, so steige ich herunter und du nimmst mich auf dein Pferd.”