ist das Gequälte nicht zu übersehen: Er komme nicht umhin, die „Idee einer höchsten und schlechthin notwendigen Vollkommenheit eines Urwesens [anzuerkennen], welches der Ursprung aller Kausalität ist“ [Kant 1998, II/599] und somit den „Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte“ [Kant 1998, II/600]. Nur nennt er diesen „Urgrund“ nicht mehr vormodern ‚Gott‘, sondern modern „intellectus archetypus“ [Kant 1998, II/600], womit wir einen weiteren Begriff aus der Sattelzeit haben, der vormoderne Metaphysik nicht abwirft, sondern lediglich in modernem Begriffsdesign verschattet.

Exakt dieser Befund gilt auch für den ‚Evolutions‘-Begriff in der modernen Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft. Doch auf dem Weg zu Veselovskij, Curtius und Ėjchenbaum bedarf es noch einer Zwischenstation.

4. Holismus

Der größere Bruder des ‚Evolutions‘-Begriffs ist das philosophische Konzept des Holismus. Entsprechend nannte Jan Christian Smuts sein 1924 erschienenes Hauptwerk Holism and Evolution. Danach meint ‚Holismus‘ die Grundauffassung, dass „alle Daseinsformen […] danach streben, Ganze zu sein“ [zit. n. Goerdt 1974: 1167]. Und dieses ‚Ganze‘ ist mehr als die Summe seiner Teile, ihm eignet vielmehr eine eigene Qualität. Der Zusammenhang mit ‚Evolution‘ im Sinne von ‚Entfaltung‘, ‚Entwicklung‘ ist ein logischer: Ohne den holistischen Überbau könnte man nur ‚Veränderung‘ feststellen; ‚Evolution‘ aber ist ein substantialistischer Begriff, der die Veränderung in eine gegebene Ordnung einbettet, eine Ordnung, die die Gültigkeit der – wie auch immer definierten – Evolutionsgesetze garantiert. Selbstverständlich ist auch ‚Holism‘ ein moderner Begriff, der alte metaphysische Probleme nicht löst oder abwirft, sondern in modernem Design reformuliert.

Auch wenn das Wort ‚Holism‘ jung ist, gab es holistisches Denken schon sehr viel früher. Goethes Faust bestaunt das Zeichen des Makrokosmos mit den Worten:

Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt! [Goethe 1987, I/14: 30]

Dabei wusste Goethe sehr wohl um die metaphysische Dimension dieses holistischen Denkansatzes. In den Zahmen Xenien heißt es entsprechend:

Sagst Du: Gott! So sprichst Du vom Ganzen [Goethe 1987, I/5,1: 144].

Oder weniger poetisch in seinen Spinoza-Studien:

In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Theile nennen, der-gestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können, und es können weder die Theile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Theile angewendet werden [Goethe 1987, II/11: 317].

Das gilt analog für das Individuum im Verhältnis zum Ganzen seiner geschichtlichen Umwelt, was uns hier nicht weiter interessiert; es gilt aber auch für das Kunstwerk als kleine Schöpfung des Künstlers im Verhältnis zur Welt als großer Schöpfung Gottes:

Jedes Schöne Ganze der Kunst ist im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen, im Ganzen der Natur [Goethe 1987, I/47: 86].

5. (Literatur-)Geschichtsschreibung, Literaturtheorie

Holistisches Denken gewann eine neue Qualität, als man es verzeitlichte. Für das alte synchrone Ordnungsdenken steht das Modell der Botanisiertrommel. Man zog durch die Natur und sammelte Versatzstücke ein, die man dann klassifizieren und kartographieren konnte, um das große Ganze des Ordnungszusammenhangs wieder sichtbar zu machen.

Für das neue diachrone Ordnungsdenken steht das Modell der Geschichtserzählung, und zwar einer Geschichte im Singular, die alle Geschichten im Plural, wie man sie in der Vormoderne verzeichnete, aufsaugt, verdaut und daraus einen ununterbrochenen Faden der Kohärenz spinnt. Ordnung offenbart sich nicht in synchroner Systematik, sondern in historischen Entwicklungen, besser in „der“ historischen Entwicklung überhaupt.