Eine Woche vorher wurden mir aus einem Schranke von einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestohlen, so musste ich in die Gebärklinik[67]. Dort, wo nur die ganz Armen, die Ausgestoßenen und Vergessenen sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Abhub[68] des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geboren worden. Was die Armut an Erniedrigung, an seelischer und körperlicher Schande zu ertragen hat, ich habe es dort gelitten an dem Beisammensein[69] mit Dirnen und mit Kranken, die aus der Gemeinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten, an der Zynik der jungen Ärzte, die mit einem ironischen Lächeln der Wehrlosen[70] das Betttuch aufstreiften und sie mit falscher Wissenschaftlichkeit antasteten, an der Habsucht[71] der Wärterinnen. Die Tafel mit deinem Namen, das allein bist dort noch du, denn was im Bette liegt, ist bloß ein zuckendes Stück Fleisch, betastet von Neugierigen, ein Objekt der Schau und des Studierens – ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem Mann, dem zärtlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken, was es heißt, allein ein Kind zu gebären! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort Hölle, so denke ich plötzlich wider meinen bewussten Willen an jenen vollgepfropften[72] Saal.
Verzeih, verzeih mir, dass ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal musste ich ausschreien wie teuer ich es erkaufte, dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich hatte sie schon vergessen, diese Stunden, längst vergessen im Lächeln, in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot ist, wird die Qual wieder lebendig, und ich musste sie mir von der Seele schreien, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an, nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual.
Nicht Dich klage ich an, und nie habe ich mich im Zorn[73] erhoben gegen Dich. Selbst in der Stunde, habe ich Dich nicht angeklagt vor Gott. Immer habe ich Dich geliebt, immer die Stunde gesegnet[74], da Du mir begegnet bist. Und müsste ich noch einmal durch die Hölle jener Stunden und wüsste vordem, was mich erwartet, ich täte es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!
Unser Kind ist gestern gestorben – Du hast es nie gekannt. Ich hielt mich lange verborgen[75] vor Dir, sobald ich dies Kind hatte; meine Sehnsucht nach Dir war weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich liebte Dich weniger leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an meiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen zwischen Dir und ihm; so gab ich mich nicht an Dich, den Glücklichen, sondern an dies Kind, das mich brauchte, das ich nähren[76] musste, das ich küssen konnte und umfangen. Ich schien gerettet vor meiner Unruhe nach Dir, gerettet durch dies Dein anderes Du.
Nur eines tat ich: zu Deinem Geburtstag sandte ich Dir immer ein Bündel weiße Rosen, genau dieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unserer ersten Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, in diesen elf Jahren Dich gefragt, wer sie sandte? Hast Du Dich vielleicht an die erinnert, der Du einst solche Rosen geschenkt? Ich weiß es nicht und werde Deine Antwort nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzureichen, einmal im Jahre die Erinnerung aufblühen zu lassen an jene Stunde – das war mir genug.