Mein Vater war längst gestorben, die Mutter mir fremd in ihrer ewige Bedrücktheit[28], die Schulmädchen stießen mich ab, weil sie so leichtfertig[29] mit dem spielten, was mir letzte Leidenschaft war. Du warst mir – wie soll ich es Dir sagen? Jeder einzelne Vergleich ist zu gering – Du warst eben alles, mein ganzes Leben. Alles in meiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es mit Dir verbunden war. Bisher mittelmäßig in der Schule, wurde ich plötzlich die Erste, ich las tausend Bücher bis tief in die Nacht, weil ich wusste, dass Du die Bücher liebtest, ich begann, zum Erstaunen meiner Mutter, plötzlich Klavier zu üben, weil ich glaubte, Du liebtest Musik. Ich putzte und nähte an meinen Kleidern. Aber Du hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen. Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts als auf Dich warten. An unserer Tür war ein kleines Guckloch, durch dessen kreisrunden Ausschnitt man hinüber auf Deine Tür sehen konnte. Dieses Guckloch – nein, lächle nicht, Geliebter, noch heute, noch heute schäme ich mich jener Stunden nicht! – war mein Auge in die Welt hinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer. Ich war immer um Dich, immer in Spannung und Bewegung. Ich wusste alles von Dir, kannte jede Deiner Gewohnheiten, jede Deiner Krawatten, jeden Deiner Anzüge.
Ich weiß, das sind alles kindische Torheiten, die ich Dir da erzähle. Aber ich schäme mich nicht, denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als in diesen kindlichen Exzessen.
Aber ich will Dich nicht langweilen. Nur das schönste Erlebnis meiner Kindheit will ich Dir noch anvertrauen. An einem Sonntag muss es gewesen sein. Du warst verreist, und Dein Diener schleppte die schweren Teppiche, durch die offene Wohnungstür. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte. Er war staunt, aber ließ mich gewähren, und so sah ich Deine Wohnung von innen.
Diese Minute war die glücklichste meiner Kindheit. Sie wollte ich Dir erzählen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu ahnen beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Ich merkte nicht, dass ein älterer Herr, ein Kaufmann aus Innsbruck öfter kam und länger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er führte Mama manchmal in das Theater, und ich konnte allein bleiben, an Dich denken, was ja meine höchste, meine einzige Seligkeit[30] war.
Eines Tages nun rief mich die Mutter in ihr Zimmer; sie hätte ernst mit mir zu sprechen. Ich wurde blass und hörte mein Herz plötzlich hämmern[31]: sollte sie etwas geahnt? Mein erster Gedanke warst Du, das Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mutter war selbst verlegen[32], sie küsste mich (was sie sonst nie tat), sie begann zu erzählen, ihr Verwandter habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie sei entschlossen, ihn anzunehmen. Heißer stieg mir das Blut zum Herzen: nur ein Gedanke antwortete von innen, der Gedanke an Dich. „Aber wir bleiben doch hier?“ konnte ich gerade noch stammeln[33]. „Nein, wir ziehen nach Innsbruck, dort hat Ferdinand eine schöne Villa.“ Mehr hörte ich nicht. Mir ward schwarz vor den Augen. Später wusste ich, dass ich in Ohnmacht[34] gefallen war. Was dann in den nächsten Tagen geschah, wie ich mich wehrte gegen ihren übermächtigen Willen, das kann ich Dir nicht schildern[35]: noch jetzt zittert mir, da ich daran denke, die Hand im Schreiben. Mein wirkliches Geheimnis konnte ich nicht verraten.
Niemand sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrücks. Man nutzte die Stunden, da ich in der Schule war, um die Übersiedlung zu fördern: kam ich dann nach Hause, so war immer wieder ein anderes Stück verräumt oder verkauft. Ich sah, wie die Wohnung und damit mein Leben verfiel, und einmal, als ich zum Mittagessen kam, waren die Möbelpacker dagewesen und hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zimmern standen die gepackten Koffer und zwei Feldbetten für die Mutter und mich: da sollten wir noch eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen.