. Ich werde Dir nicht fehlen – das tröstet mich. Nichts wird anders sein in Deinem schönen, hellen Leben … ich tue Dir nichts mit meinem Tod … das tröstet mich, Du Geliebter.

Aber wer … wer wird Dir jetzt immer die weißen Rosen senden zu Deinem Geburtstag? Geliebter, höre, ich bitte Dich … es ist meine erste und letzte Bitte an Dich … tu mir es zuliebe[102], nimm an jedem Geburtstag – es ist ja Tag, wo man an sich denkt – nimm da Rosen und tu sie in die Vase. Tu’s, Geliebter, tu es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe lesen lassen für eine liebe Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott mehr und will keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich und will nur in Dir noch weiterleben … ach, nur einen Tag im Jahr, ganz, ganz still nur, wie ich neben Dir gelebt … Ich bitte Dich, tu es, Geliebter … es ist meine erste Bitte an Dich und die letzte … ich danke Dir … ich liebe Dich, ich liebe Dich … lebe wohl…


Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dann sann er lange nach. Verworren[103] tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich und verworren. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein Bild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erinnerte sich doch nicht. Ihm war, als ob er von all diesen Gestalten geträumt hätte, oft und tief geträumt, aber doch nur geträumt.


Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie war leer, zum ersten Mal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak zusammen[104]: ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen, und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. Er spürte einen Tod und spürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf in seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körperlos und leidenschaftlich wie an eine ferne Musik.

Der Amokläufer

Im März des Jahres 1912 ereignete[105] sich im Hafen von Neapel bei dem Ausladen eines großen Überseedampfers ein merkwürdiger Unfall, über den die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschmückte[106] Berichte brachten. Obzwar Passagier der „Oceania“, war es mir ebenso wenig wie den anderen möglich, Zeuge[107] seltsamen Vorfalles zu sein. Es ereignete sich zur Nachtzeit während des Kohlenladens und der Löschung der Fracht[108], wir aber, um den Lärm zu entgehen, alle an Land gegangen waren und dort in Kaffeehäusern oder Theatern die Zeit verbrachten. Immerhin meine ich persönlich, dass manche Vermutungen, die wirkliche Aufklärung jener Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir wohl, das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das jener seltsamen Episode unmittelbar[109] vorausging.


Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz für die Rückreise nach Europa auf der „Oceania“ bestellen wollte, zuckte der Clerk bedauernd die Schultern. Am nächsten Tage teilte er mir erfreulicherweise mit, er könne mir noch einen Platz vormerken, freilich sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des Schiffes. Ich war schon ungeduldig, heimzukehren. Ich zögerte nicht lange und ließ mir den Platz zuschreiben.


Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war überfüllt und die Kabine schlecht, ein kleiner gepresster, rechteckiger Winkel in der Nähe der Dampfmaschine. Die stockende, verdickte Luft roch nach Öl und Mod: nicht für einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator entgehen. Von unten her ratterte und stöhnte die Maschine, von oben hörte man unaufhörlich das schlurfende