Dulde, Geliebter, dass ich Dir alles, alles von Anfang erzähle, werde, ich bitte Dich, die eine Viertelstunde von mir zu hören nicht müde, die ich ein Leben lang Dich zu lieben nicht müde geworden bin. Ehe Du in unser Haus einzogst, wohnten hinter Deiner Tür hässliche, böse Leute. Arm wie sie waren, hassten sie am meisten die nachbarliche Armut. Der Mann war ein Trunkenbold[10] und schlug seine Frau. Meine Mutter hatte von Anfang an jeden Verkehr[11] mit ihnen vermieden und verbot mir, zu den Kindern zu sprechen. Das ganze Haus hasste mit einem gemeinsamen Instinkt diese Menschen, und als plötzlich einmal etwas geschehen war – ich glaube, der Mann wurde wegen eines Diebstahls eingesperrt – und sie mit ihrem Kram ausziehen mussten, atmeten wir alle auf. Ein paar Tage hing der Vermietungszettel[12] am Haustore, dann wurde er heruntergenommen, und durch den Hausmeister verbreitete es sich rasch, ein Schriftsteller, ein einzelner, ruhiger Herr, habe die Wohnung genommen.

Damals hörte ich zum ersten Mal Deinen Namen. Aber Dich selbst bekam ich noch nicht zu Gesicht: alle diese Arbeiten überwachte Dein Diener, dieser kleine, ernste, grauhaarige Herrschaftsdiener, der alles mit einer leisen Art von oben herab dirigierte. Er imponierte uns allen sehr, erstens, weil in unserem Vorstadthaus ein Herrschaftsdiener etwas ganz Neuartiges war, und dann, weil er zu allen so ungemein höflich war. Meine Mutter grüßte er vom ersten Tage an respektvoll als eine Dame. Wenn er Deinen Namen nannte, so geschah das immer mit einer gewissen Ehrfurcht[13], mit einem besonderen Respekt. Und wie habe ich ihn dafür geliebt, den guten alten Johann, obwohl ich ihn beneidete[14], dass er immer um Dich sein durfte und Dir dienen.


Ich erzähle Dir all das, Du Geliebter, all diese kleinen Dinge, damit Du verstehst, wie Du von Anfang an schon eine solche Macht gewinnen konntest über das scheue[15] Kind, das ich war. Wir alle in dem kleinen Vorstadthaus warteten schon ungeduldig auf Deinen Einzug. Und diese Neugier nach Dir steigerte sich erst bei mir, als ich eines Nachmittags von der Schule nach Hause kam und der Möbelwagen vor dem Hause stand. Ich blieb an der Tür stehen, um alles bestaunen zu können, denn alle Deine Dinge waren so seltsam anders. Es gab da italienische Skulpturen, große Bilder, und dann zum Schluss kamen Bücher, so viele und so schöne, wie ich es nie für möglich gehalten.


Ich glaube, ich hätte sie stundenlang alle angesehen: da rief mich die Mutter hinein. Den ganzen Abend dann musste ich an Dich denken; noch ehe ich Dich kannte. Ich besaß selbst nur ein Dutzend billige Bücher, die ich über alles liebte und immer wieder las. Und nun habe ich gedacht, wie der Mensch sein müsste, der all diese vielen herrlichen Bücher besaß und gelesen hatte, der alle diese Sprachen wusste, der so reich war und so gelehrt[16] zugleich. Damals in jener Nacht und noch ohne Dich zu kennen, habe ich das erste Mal von Dir geträumt. Am nächsten Tage zogst Du ein, aber ich konnte Dich nicht zu Gesicht bekommen – das steigerte nur meine Neugier. Endlich, am dritten Tage, sah ich Dich, und wie erschütternd[17] war die Überraschung für mich, dass Du so anders warst. Einen bebrillten Greis[18] hatte ich mir geträumt, und da kamst Du – Du, ganz so, wie Du noch heute bist! Du trugst ein hellbrauner, entzückender Sportdress und liefst in Deiner unvergleichlich leichten knabenhaften Art die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich erschrak vor Erstaunen, wie jung, wie hübsch, wie federnd-schlank und elegant Du warst. Und ist es nicht seltsam: in dieser ersten Sekunde empfand ich ganz deutlich, dass Du irgendein zwiefacher